„Medienbildung sowie kritisch-reflexiver Umgang mit digitalen Bildungstechnologien lassen sich nicht auf Skills und Anwendungskompetenzen reduzieren“(Braun et al. 2021).
Im Internet findet man unter dem Suchbegriff «instant band names» eine Karikatur, die sich auf Musikbandnamen bezieht. Aus einer Tabelle mit drei Spalten A, B und C kann man Wörter kombinieren und kommt so zu Bandnamen wie «Screaming Monkey Sticks» oder «Love Drug».
In letzter Zeit konnte man den Eindruck gewinnen, dass sich Konzepte, die auf Medienbildung und Informatik bezogen sind, auf ähnliche Art und Weise generiert wurden:
A | B | C |
Digitale Digital |
Medien Media |
Kompetenz Competence |
Computational | Computer |
Bildung Education |
Informatik | Literacy | |
ICT | Skills | |
Pädagogik | ||
Learning |
Teilweise entsteht der Eindruck einer gewissen Willkür und fehlenden Bewusstseins für gewachsene disziplinäre Traditionen. Auch kann man davon ausgehen, dass bei manchen Begriffsschöpfungen Profilierungs- und Abgrenzungsprozesse eine Rolle spielen. Ebenso können politische oder wirtschaftliche Interessen hinter bestimmten Konzepten stehen. Zur Kritik am Begriff «Digitale Bildung» vgl. Niesyto 2021.
Wichtig ist eine kritische Reflexion über Kriterien für Begriffe und Konzepte. Mit der folgenden Liste soll eine Diskussion über Kriterien angestossen werden. Die Nummerierung ist nicht als Rangreihe in Bezug auf Wichtigkeit zu verstehen.
Kriterien für Begriffe und Konzepte
- Deutungsfunktion / Erklärungsfunktion (Wie wird die Wirklichkeit über das Konzept angeeignet und konstruiert? Wo sind Chancen, wo sind Grenzen?)
- Adaptierbarkeit (Ist das Konzept auch passend für neue Phänomene?)
- Anschlussfähigkeit (deutschsprachiger, disziplinärer Diskurs; internationaler, englischsprachiger Diskurs)
- Praxistauglichkeit / Praxisrelevanz (Inwiefern kann Praxis reflektiert oder theoriebezogen geplant werden?)
- Schlüsselfunktion (Welche Türen können politisch bzw. gesellschaftlich geöffnet werden?)
- Objektivität (Inwieweit ist das Konzept unabhängig von Partikularinteressen?)
- Empirische Sättigung (Ist das Konzept auf der Basis empirischer Forschung gewonnen worden, oder handelt es sich um eine Setzung ohne empirische Grundlage?)
- Erleichterung und Vereindeutigung der Kommunikation (vgl. Eindeutigkeit in der Sprache der Medizin)
- Etabliertheit (z. B. in der Gesamtbevölkerung, im Journalismus in der Politik)
- Möglichkeit der Stärkung von disziplinären Traditionen
- Vermittelbarkeit (Lässt sich das Konzept gut in Hochschulkontexten vermitteln oder stösst es bei bestimmten Zielgruppen auf Abwehr?)
- Missdeutungsresistenz (Wie leicht kann das Konzept für bestimmte politische oder ideologische Interessen umgedeutet werden?)
Wie sind diese Kriterien zu gewichten? Gibt es Kriterien, die sich widersprechen?
Im Folgenden soll der letzte Punkt aufgegriffen werden.
Die strukturelle Seite muss bei jedem Konzept mitgedacht werden
Ist fehlende Medienkompetenz Ausdruck eines gescheiterten Subjekts? Häufig besteht die Gefahr der Individualisierung und Psychologisierung von gesellschaftlichen Problemen. Wenn die Verantwortung für Kompetenzaneignung allein beim Subjekt verortet wird, könnte der Staat sich zurückziehen und auf eine regulierende oder ermöglichende Funktion verzichten (z. B. Förderung von Bildung, Vorgaben bei Games und Internetangeboten, Regulierung von Social-Media-Angeboten, Verhinderung von Fake News und «algorithmic bias»). Es ist wichtig sowohl den sozialen Zusammenhang als auch die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht zu vergessen (z. B. Arbeitsbedingungen, Formen sozialer Ungleichheit). Es muss immer auch danach gefragt werden, ob der jeweiligen Zielgruppe genügend Ressourcen zur Verfügung stehen und ob ihr Zugang zu Bildung ermöglicht worden ist.
Ein Beispiel: Eine Gruppe von jungen Menschen hat schlechte Zukunftsaussichten, weil sie in einem sozialen Milieu aufwächst, in dem es an Geld und Bildung fehlt (mangelndes ökonomisches und kulturelles Kapital im Sinne von Bourdieu (1987)). Für diese Jugendlichen wäre es nicht ausreichend, wenn sie nur individuell an ihren Kompetenzen arbeiten würden – es braucht auch strukturelle Veränderungen in Bezug auf ihre Lebenssituation. Im Idealfall bedeutet Kompetenzaneignung nicht die Anpassung an ein bestehendes System, im Sinne einer besseren Vermarktbarkeit von Arbeitskräften oder im Sinne einer besseren Frustrationstoleranz, sondern auch die Befähigung, Systeme im Sinne von mehr sozialer Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu verändern. Menschen sollen nicht deswegen gestärkt werden, damit sie besser ausgebeutet werden können. Der Diskurs um randalierende Gruppen in deutschen Grossstädten in der Silvesternacht 2022/2023 könnte auf diesen Kontext bezogen werden (vgl. Stadelmann 2023).
Es stellt sich die Frage, ob diese Ansprüche bereits in der Wahl eines Begriffs eingelöst werden können oder ob es eines kontinuierlichen Diskurses bedarf. Bestimmte Konzepte stehen in einer besonderen kritischen Denktradition (z. B. Medienkompetenz nach Baacke (1997)), was aber nicht bedeutet, dass sie gegen Funktionalisierung oder Reduktion immun wären. Die strukturelle Seite muss bei jedem Konzept mitgedacht werden.
Hinweis: Einige Gedanken wurden bereits in Holzwarth 2022 publiziert.
Literatur:
Baacke, Dieter 1997. Medienpädagogik. Tübingen: Niemeyer
Bourdieu, Pierre 1987. Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Braun, Tom, Andreas Büsch, Valentin Dander, Sabine Eder, Annina Förschler, Max Fuchs, Harald Gapski, Martin Geisler, Sigrid Hartong, Theo Hug, Hans-Dieter Kübler, Heinz Moser, Horst Niesyto, Horst Pohlmann, Christoph Richter, Klaus Rummler, und Gerda Sieben. 2021. «Positionspapier Zur Weiterentwicklung Der KMK-Strategie ‹Bildung in Der Digitalen Welt›». MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie Und Praxis Der Medienbildung, Nr. Statements and Frameworks (November):1-7. https://doi.org/10.21240/mpaed/00/2021.11.29.X. https://www.medienpaed.com/article/view/1487/1080
Holzwarth, Peter 2022. Life Skills mit Medien. Projektideen für Selbstbewusstsein und Lebenskompetenzen, München: kopaed
Niesyto, Horst 2021. ‚Digitale Bildung‘ wird zu einer Einflugschneise für die IT-Wirtschaft. In: medien + erziehung, Heft 1/2021, S. 23-28. https://horst-niesyto.de/wp-content/uploads/2021/02/2021_Niesyto_digitale_Bildung_IT-Wirtschaft_Langfassung.pdf
Stadelmann, Viviane 2023. Nach Silvester-Krawallen. Integration in der Schweiz: etwas anders als in Nachbarländern. SRF. 4.1.2023 https://www.srf.ch/news/international/nach-silvester-krawallen-integration-in-der-schweiz-etwas-anders-als-in-nachbarlaendern